« 'Aber der Zorn stellt die Welt bloß'. Zur zeitgenössischen Wut: Olga Grjasnowas Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012) »
Résumé
In ihrer berühmten Lessingrede betont Hannah Arendt neben dem Mitleid auch den Zorn, einen der „angenehmen Gemütsempfindungen“ der griechischen Affektenlehre. „In der Hoffnung“, behauptet sie, „überspringt die Seele die Wirklichkeit, wie sie in der Furcht sich vor ihr zurückzieht. Aber der Zorn [...] stellt die Welt bloß.“ Wenn der Zorn auch als wesentlicher Bestandteil ihres politischen Denkens fungiert, so vor allem deshalb, weil sie ihn eben als „gesteigerte[s] Realitätsempfinden“ versteht.
Nach den vielen Krisen, die Europa in den letzten zwanzig Jahren durchgemacht hat, erweist sich ein solches Realitätsempfinden heute als geradezu angebracht, um nicht zu sagen notwendig. Dabei sorgt ein Thema ganz besonders für Empörung, nämlich die sogenannte „Flüchtlingsfrage“. Zahlreiche deutschsprachige Romane setzen sich mit der Darstellung von Flüchtlingen auseinander und zeugen unweigerlich von den verschiedenen Diskriminierungen und Demütigungen, denen Flüchtlinge zum Opfer fallen. So vielfältig die daraus resultierenden Formen des Zorns in den Romanen auch sein können – von der Wutrede, die Abbas Khiders Roman Ohrfeige (2016) ausmacht, über die vielen Wutausbrüche der Hauptfigur in Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012) von Olga Grjasnowa zum Sarkasmus der Erzählerin in Irena Brežnás Die undankbare Fremde (2012) –, so gilt dieser Zorn immer dem unerträglichen Zustand der Ohnmacht, der Nichtanerkennung, sowie der politischen Unfreiheit, in dem sich Flüchtlinge befinden.
Was solche Empörung im arendtschen Sinne genau „bloßstellt“, soll am Beispiel des oben erwähnten Romans von Olga Grjasnowa näher betrachtet werden, sowie die verschiedenen Erzählstrategien, die sie als Triebkraft des Schreibens fungieren lassen. Dabei soll die Frage nach der politischen Tragweite dieser Empörung erörtert werden, geht es doch letztendlich darum, so die politische Denkerin, „sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden, ohne sich ihr zu verschreiben, wie man sich früher dem Teufel verschrieb.“