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Communication Dans Un Congrès Année : 2019

Atomares Pompeji

Anne Peiter

Résumé

Der erste militärische Einsatz von Atombomben über Hiroshima und Nagasaki brachte Zerstörungen eines Ausmasses hervor, die in der deutschen Literatur als Spiegel und Steigerung des soeben beendeten area bombing über deutschen Städten reflektiert wurde. So erklärt sich, dass besonders deutsche science-fictionAutorInnen begannen, nach Bildern zu suchen, in denen die erwachenden Ängste vor einem neuen, dieses Mal atomaren Krieg zum Ausdruck gebracht werden konnten. Zu den Motiven, die in der Geschichte der Angst schrittweise zu einem regelrechten Topos avancierten, gehören Vergleiche zwischen der Zerstörung Pompejis im Jahre 79 v. Chr. und modernen Großstädten nach einem möglichen atomaren Schlagabtausch zwischen den beiden Supermächten des Kalten Krieges. Vorgestellt wurde das Verschwinden menschlichen Lebens bei gleichzeitiger Intaktheit von Wohnungen und Alltagsgegenständen. Es scheint, dass die Doppelbödigkeit dieses Bildes auf Tiefenschichten im kollektiven Gefühlshaushalt Westdeutschlands verweist, in der das Weiterwirken von Ängsten aus dem Zweiten Weltkrieg mit ihrer Stillstellung einherging. Diese “Naturalisierung” denkbarer militärstrategischer Entscheidungen wurde begleitet von einer verwunderlichen Tatsache, die mich ins Zentrum des Konferenzthemas hineinführt: Die äusserliche Intaktheit eines modernen Pompeji wurde kombiniert mit der Vorstellung, dass nach einem Dritten Weltkrieg neue Formen von Archäologie möglich würden (meist aus dem All oder von Lebewesen oder Menschen, die die “atomare Keule” überlebt haben) und dass diese Arbeit sich unter gewissermassen aseptischen Bedingungen abspielen werde. Zerstörungen aller Art wurden als denkbare Gefahr zugegeben, nicht jedoch die Ausbreitung von Leichengestank, die in den Trümmern der bombardierten Städte Europas (Rotterdam, London, Warschau, Stalingrad, Hamburg, Dresden) zu der Grunderfahrung der dortigen Überlebenden gehört hatte. Anders gesagt: Die Texte stanken nicht, obwohl die Realität, von der sie handelten, es tat. Mit der olfaktorischen Säuberung der Literatur scheint aber auch eine emotionale Aseptisierung einhergegangen zu sein, und um genau diese soll es in meinem Beitrag gehen. Meine These lautet, dass sich die Kritikfähigkeit gegenüber dem Wettrüsten des Kalten Krieges in der deutschen und französischen science-fiction-Literatur proportional zum Grad des historischen Bewusstseins bezüglich der “allerjüngsten” Vergangenheit verhielt. Anders gesagt: Je stärker die Schrecken des Zweiten Weltkriegs sich in einer “Olfaktisierung” der Literatur sowie einer Anerkennung der eigenen Ängste niederschlugen – nämlich als Anerkennung von Toten und Ermordeten in den Konzentrationslagern und in den bombardierten Städten –, umso wahrscheinlicher war es, dass mit Blick auf die Erfahrungen von Hiroshima und Nagasaki eine Einsicht in das erfolgte, was der Philosoph Günther Anders als das “prometheische Gefälle” moderner Gesellschaften bezeichnet hat. Die Geruch- und Emotionslosigkeit anderer science-fiction-Text ist im Gegensatz dazu ein Gradmesser für ein Beschweigen der Vergangenheit, zu der die Aseptik und vermeintliche Geruchlosigkeit Pompejis nach dem Ausbruch des Vesuvs in sprechende Parallele traten. Mein Anliegen ist es, anhand des Motivs von Pompeji einen wichtigen Ausschnitt aus der Geschichte des Kalten Krieges zu beleuchten – oder vielmehr: diesen zu beriechen, denn meine These besagt, dass die jeweilige “Riechhaltigkeit” literarischer Texte ein Spektrum von auf Politik bezogenen Gefühlen aufspannt, das für das Verhältnis zu den Bomben “little boy” und “fat man” ebenso wichtig ist wie für die Interpretation der nationalsozialistischen Geschichte und dem Umgang mit ihr in der unmittelbar bevorstehenden – atomaren? – Zukunft. Eine kleine Geschichte der atomaren Angst also soll anhand von Beispielen aus der deutschen und französischen Literatur geschrieben werden – doch nicht als isoliertes Phänomen, sondern als eines, an dem die Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs und die antizipierte Zukunft beteiligt waren.
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Dates et versions

hal-01899913 , version 1 (20-10-2018)

Identifiants

  • HAL Id : hal-01899913 , version 1

Citer

Anne Peiter. Atomares Pompeji: Zur “Riechhaltigkeit” deutscher und französischer Ängste in der Science-Fiction-Literatur der 1940er bis 1960er Jahre. Emotionen, Politik und Medien in der Zeitgeschichte / Emotions, politique et médias à l'époque contemporaine, Universität des Saarlandes, Lettres - Sorbonne Université, Europäische Zeitgeschichte, GIRAFFFD, Oct 2018, Saarbrücken, Germany. ⟨hal-01899913⟩
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